Wer nach einem neuen Sinn in seinem Leben sucht, begibt sich am besten auf eine Pilgertour, dachte die Journalistin Inge Behrens. Sie berichtet über die Impressionen und Erlebnisse ihrer 150 Kilometer langen Radwallfahrt durch das Jura und über die Impulse ihrer inneren Wanderung.
Vor sechs Monaten ist mein Sohn ausgezogen. Ich fand seine Entscheidung richtig, schließlich lässt eine Mutter ihr Kind los, wenn sie es liebt. Diese Zäsur machte mir jedoch schwerer zu schaffen, als ich vermutet hatte. Die Struktur meines Alltags – ein Gerüst, das mir bislang Halt gegeben hatte – war wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. Ohne all die täglichen Pflichten schien mir mit einem Mal mein Leben ohne Sinn zu sein. Zurückgeworfen auf mich selbst, fühlte ich mich mutterseelenallein. Um der Einsamkeit zu entfliehen, verabredete ich mich jeden Tag mit Freunden. Doch ständig unterwegs und auf Trab zu sein, zehrte nur an meinen Kräften. Und das Gefühl der Leere blieb. Offenbar machte es wenig Sinn, sich abzulenken oder sich mit Gesprächen zu betäuben. Um wieder in Kontakt mit mir zu kommen und meine inneren Impulse und Wünsche besser zu spüren, musste ich mal eine Zeitlang allein sein. Da die gleichmäßige Bewegung bekanntlich den Findungsprozess beschleunigt, beschloss ich für eine Woche auf Pilgertour zu gehen.
„Pilgern heißt, den Weg der Sehnsucht zu gehen. Diese Sehnsucht zeigt mir, dass in mir etwas ist, das diese Welt übersteigt. Im Pilgern komme ich in Berührung mit meiner Sehnsucht. Sie ist die Spur, die Gott in mein Herz gegraben hat“, lautete ein Satz von Pater Anselm Grün, den ich mal gelesen hatte. Und genau diese Spur wollte ich in mir wiederfinden.
Allerdings wollte ich nicht zu Fuß gehen, sondern mit dem Rad, also per Pedale pilgern. Eine Bekannte hatte mir von einem neuen Radwanderweg berichtet, der die französische Stadt Belfort und das eidgenössische Städtchen Porrentruy verbindet und durch das sattgrüne und quellenreiche Juragebiet führt. Ziel meiner einwöchigen Radwandertour war die berühmte moderne Wallfahrtskirche „Notre-Dame du Haut“ in Ronchamp.
„Das Alleinsein stellt eine Art seelischen Gipsverband dar, in dem etwas heilt“.
Eine Woche vor Pfingsten stand ich mittags mit meiner neuen sportlichen Begleitung, dem Mountainbike, am Bahnhof in Belfort. Eine Freundin, die in Basel lebt, hatte es mir geliehen. Der Radwanderweg „Francovelosuisse“ war gut sichtbar mit der Nummer 64 ausgeschildert. Der erste Teil der neu ausgebauten Radstrecke führte durch flache weite Auen. Ich trat beständig und regelmäßig und glitt ohne große Anstrengung durch die Natur. Obwohl das Wetter nicht sehr gut war und die Sonne nur gelegentlich hervorkam, wirkten die frühlingsfrischen Farben der Natur, das Grün der Bäume und Wiesen, so intensiv auf mich, dass sie mir beinahe surreal erschienen. Meine Befürchtung, dass es mich langweilen würde, allein auf Tour zu sein, ließ ich mit jeder Umdrehung rasch hinter mir. Ganz im Gegenteil schien es mir mit einem Mal, dass man sich allein viel leichter auf das Erleben der Landschaft einlassen konnte. Wenn sich am Horizont bizarre Wolkenformationen bildeten, konnte ich sie in aller Ruhe betrachten. Es war schön zu beobachten, wie sie sich auseinander dehnten oder sich aneinander schmiegten und weiter zogen. „Wir schauen viel zu selten in die Wolken“, hatte mir mal eine hamburger Malerin gesagt. Und tatsächlich stellte ich fest, wie deren sinnlose Betrachtung meinen ruhelosen Geist beruhigte und meine traurige Seele erfreute…