Die Theologin und Pfarrerin Prof. Dr. Margot Kässmann ist eine der bekanntesten und beliebtesten Gottesfrauen im deutschsprachigen Raum. Auch nach ihrem Rücktritt als Bischöfin sind ihre Bücher wie „Sehnsucht nach Leben“, „Was im Leben trägt“ oder „Gehalten in Gottes Hand“ weiterhin gefragt. Jetzt erscheint im Herder Verlag der Fotoband „Stille und Weite“. Die eindrucksvollen Landschaftsbilder hat Monika Lawrenz von ihrer Heimat Mecklenburg Vorpommern gemacht, Margot Kässmann hat die Texte dazu verfasst. Das Ergebnis ist, wie sie sagt, ein wunderbarer Dialog von Bild und Wort, der dazu einlädt, öfter in die Natur zu gehen, um die eigene Enge zu verlassen, die zarten Töne zu hören und sich wieder auf das äußere und innere Erleben einzulassen. Inge Behrens hat mit ihr über die Tiefendimensionen des diesseitigen Lebens und das Jenseits gesprochen und was man in der Begegnung mit der Natur finden und erleben kann
Behrens Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Stille und Weite“, dass Menschen in der Natur, mit dem Rücken zur tosenden Welt oder verwirrenden Welt des Alltags, auf sich selbst zurückgeworfen, wieder neue Orientierung im Leben und im Glauben finden. Können Sie genauer erklären, was sie als bibeltreue Theologin damit genau meinen? Denn auch viele spirituelle Menschen, die nicht gottesgläubig sind, schöpfen Kraft aus der Begegnung mit der Natur, deren Mächtigkeit viele kleine und größere Sorgen relativiert.
Margot Kässmann Schon die Psalmen können Gott in der Schöpfung preisen. Jesus geht in die Wüste, um herauszufinden, was sein Auftrag ist. Und später wird er die Lilien auf dem Feld als Beispiel für Gottvertrauen nehmen. Das heißt, Natur als Schöpfung kann uns helfen, uns herauszunehmen aus dem Alltagsstress, diesem ständigen Druck, um Abstand zu gewinnen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Christen werden das immer rückbeziehen auf die Bibel. Aber mir ist wichtig, dass christliche Spiritualität neben dem Wort eben auch sinnliche Erfahrung, Sehen, Tasten, Staunen kennt.
Behrens Ein Merkmal der modernen marktorientierten Gesellschaft ist wohl die Verflachung der menschlichen Beziehung. Ob nun die Weite des Meeres, endlos dahin wogende Felder oder ein mächtiger jahrhundertealter Baum – die Natur lässt uns wieder die Tiefendimensionen des Lebens spüren. Können Sie bitte erklären, was einem Menschen Tiefe verleiht und was sie damit meinen?
Kässmann Es lebt sich sehr schnell und oberflächlich Tag für Tag. Ich habe Menschen erlebt, die ganz erstaunt sind, wenn sie am Ende des Lebens angekommen sind, an der Grenze. Ein Baum nimmt uns hinein in die Abfolge der Generationen. Oft wurde er gepflanzt lange bevor wir geboren wurden und er wird noch stehen, wenn wir gestorben sind. Tiefe heißt, Endlichkeit kennen, mit meiner Grenze leben und doch glauben und hoffen, dass der Endpunkt ein Doppelpunkt ist.
Behrens Das ist eine wunderbare linguistische Metapher. Wie stellen Sie sich denn persönlich das Jenseits vor?
Kässmann Da halte ich mich an die Bibel. Sie erzählt gar nicht so viel konkret darüber, sagt aber, dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen werden (Psalm 85), Gott mitten unter uns wohnen wird (Offb. 21,3) und alle Tränen werden abgewischt werden, Leid, Not, Geschrei haben ein Ende, der Tod wird nicht mehr sein (Offb. 21,4) – das alles sind Bilder, in die ich mich gut hinein denken kann. Wenn es dann noch heißt, dass die Liebe das alles überdauert, habe ich auch die Zuversicht, meine Liebsten auf irgendeine Art und Weise wieder zu finden.
Behrens Kann man aus der Begegnung mit der Natur auch Hoffnung und Zuversicht schöpfen?
Kässmann Ja, denn der Frühling beispielsweise ist ein Sinnbild für Auferstehung. Die Blütenpracht eines Mohnfeldes steht für Lebenslust und Leichtigkeit. Ein tiefes Einatmen am Meer kann uns ermutigen, neue Wege zu gehen. Das kann auch zu Gotteslob führen, zu Ehrfurcht vor der Schöpfung.
Behrens Auf einem der Bilder (Fotos) Monika Lawrenz sieht man eine Schneelandschaft, in der sich plötzlich eine Spur verliert. Was sagen Sie als Pfarrerin Menschen, die aus der Spur geraten sind und nicht weiter wissen?
Kässmann Dass es im Leben Abzweigungen gibt, die wir nicht verstehen, dass wir in Sackgassen und auch auf Abwege geraten. Damit muss unser Leben aber nicht aus den Fugen geraten. Gerade wenn wir Zeiten von Zweifel, Kummer und Leid erleben, sind das Erfahrungen, die uns Reife geben. Als Christin bin ich überzeugt, dass uns Gott gerade in diesen Phasen Kraft zum Leben, zum Weiterleben gibt.
Behrens Was raten Sie als Theologin den Menschen. Und was steht in dieser Zeit an?
Kässmann In einer Zeit, in der viele Menschen seelisch erschöpft sind, scheint mir besonders wichtig, anzuhalten, Zeiten der Stille zu suchen, in denen wir fragen: Was will ich mit der begrenzten Lebenszeit, die mir bleibt, anfangen? Wie will ich für mich sinnvoll leben? Wenn wir uns dieser Frage stellen, findet auch die Seele eine neue Balance, davon bin ich überzeugt. Zur Antwort gehört für mich Gottvertrauen.