Beim chronischen Schmerzsyndrom ist es für Patienten schwer, ärztlichen Rat zu finden. Dr. Dominik Irnich blickt bei der Behandlung dieser komplexen Krankheit auf den ganzen Menschen.
Zwei bis drei Millionen Menschen leiden hierzulande am chronischen Schmerzsyndrom, einer eigenständigen Erkrankung, die sich vom ursprünglichen Schmerzereignis abgekoppelt und verselbstständigt hat. Für das Gesundheitsmagazin natürlich gesund und munter sprach die Gesundheits-Journalistin Inge Behrens mit dem erfahrenen Schmerztherapeuten, der sich für ein humanistisches und ganzheitliches Verständnis chronischer Schmerzen einsetzt.
Wann sprechen Sie und Ihre Kollegen von einem chronischen Schmerzsyndrom?
Dr. Irnich: Wenn der Schmerz auf körperlicher Ebene nicht beseitigt werden kann und zu massiven Einschränkungen führt, sodass er Eingang in Beruf, Freizeit und Beziehungen gehalten hat; wenn also die Schmerzen überhand gegenüber dem täglichen Leben nehmen. Menschen, die ihre Schmerzen ohne Alltagseinschränkung im Griff haben, etwa Rheumatiker,
zählen nicht zu den chronischen Schmerzpatienten.
Viele Patienten mit chronischen Schmerzen finden keine adäquate ärztliche Unterstützung. Woran liegt das?
Dr. Irnich: Viele Ärzte betrachten Schmerz monokausal als ein rein biologisches Problem, das man auch nur biologisch behandeln kann. Es erfordert jedoch ein komplexes Denken und Verständnis, das wiederum viel Zeit und Arbeit beansprucht. Und dafür sind die gesundheits- und sozioökonomischen Rahmenbedingungen nicht gegeben.
In Ihrem Buch „Den Rücken heilen“ (Irisiana Verlag) berichten Sie von einem Schmerz-patienten, der erfolglos zahlreiche Ärzte konsultierte und sich fünf Kernspintomografien und einer OP unterzog. Was hätten die Ärzte tun müssen, um der Chronifizierung des Schmerzes vorzubeugen?
Dr. Irnich: Bei akuten Schmerzen muss der Arzt gemäß der nationalen Versorgungsleitlinie klären, ob es eine eindeutige körperliche Ursache gibt, die beseitigt werden kann. Er muss ausschließen, ob ein Wirbelbruch, Rückenmarkmetastasen oder etwa ein echter Bandscheibenvorfall mit Lähmung vorliegt. Um das festzustellen, ist eine Befragung und körperliche Untersuchung meist völlig ausreichend. Dazu gehört auch, sich als Arzt ein umfassendes Bild über die psychosoziale Belastungssituation zu machen. Ein Patient mit akuten Schmerzen, der Angst um seinen Arbeitsplatz hat, eine starke Wut in sich trägt oder erschöpft ist, kann leichter an einem chronischen Schmerzsyndrom erkranken. In dem von Ihnen genannten Fall hat sich kein Arzt Zeit für den Menschen genommen, stattdessen wurde radiologische Diagnostik betrieben. Die braucht man jedoch nur, wenn man einen konkreten
Verdacht hat. In 95 Prozent der Fälle sind Rückenschmerzen aber unspezifisch und können nicht auf eindeutige Ursachen zurückgeführt werden. Das heißt, es sind Funktionen gestört, was auch sehr weh tun kann. Aber die Gerätemedizin hilft da bei der Diagnostik nicht.
Welche Bedeutung bei der Chronifizierung von Schmerzen haben Emotionen und seelische Probleme?
Dr. Irnich: Seelische Probleme spielen eine Rolle. Doch ist es wichtig zu verstehen, dass chronischer Schmerz nicht rein psychisch ist. Selbst ein heftiger Seelenschmerz kann zu Funktionsstörungen des Körpers führen und irgendwann sogar seine Struktur verändern. Am Schluss setzt sich der Schmerz immer dorthin, wo der geringste Widerstand ist. Daher kann sich ein chronisches Schmerzsyndrom auch überall im Körper entwickeln. Eine meiner Patientinnen beispielsweise leidet an einem chronischen Gesichtsschmerz. Angefangen hat das, als sie vor zehn Jahren eiskaltes Wasser getrunken hat, was kurz stärkste Zahnschmerzen verursacht hat. Als emotionale Belastungen und Verspannungen hinzukamen, hat sich der Körper beim Zähnepressen an diesen Schmerz erinnert und sich so einen Weg gebahnt, hin zum chronischen
Schmerz. Hat sich der Schmerz einmal den schnellen Zugang ins Gehirn und damit ins Bewusstsein gebahnt, werden über diesen Schmerzweg eben auch persönliche Konflikte,
Emotionen, Belastungen und Überlastungen ausgedrückt.
Gibt es bestimmte Risikofaktoren, die eine Chronifizierung von Schmerzen begünstigen?
Dr. Irnich:Einstellungen und Emotionen wie rigides Durchhalten oder Katastrophisieren und belastende oder unverarbeitete Gefühle wie Ärger, Zorn, Groll können die Muskelspannung erhöhen und das Nervensystem sensibilisieren, was Schmerzen verstärkt. Doch erst das individuelle Zusammenspiel somatischer und psychosozialer Faktoren im biografischen Kontext führt zu einer chronischen Schmerzerkrankung. Innerhalb des Multimodalen Schmerzprogramms arbeiten verschiedene Berufsgruppen fachübergreifend zusammen.
Ist es wichtig zu wissen, welches akute Schmerzereignis dem Schmerzsyndrom vorausging?
Dr. Irnich: Für den Therapieverlauf ist es nicht mehr relevant, ob ein Patient an Ganzkörperschmerzen, Rücken- oder Hüftschmerzen leidet. In der multimodalen Schmerztherapie geht es darum, Lösungen zu finden. So können die Patienten die Selbstregulation und das körpereigene Schmerzhemmsystem trainieren und Strategien entwickeln, um den Schmerz zu überwinden. Dazu werden sie vier Wochen lang
naturheilkundlich, mit Akupunktur, physiotherapeutisch, psychosomatisch, aber auch konventionell, also medikamentös behandelt. Wichtig ist dabei, dass die Patienten motiviert
sind und dass alle Ärzte und Therapeuten gemeinsam an